Marina S., 45 Jahre, aus Mariupol

Die Namen wurde aus Sicherheitsgründen geändert.

Dmitri Morozow, 45 Jahre, mit seiner Frau Julia, 27 Jahre, und ihren Kindern Maria,15 Jahre, und Svajtoslav, 6 Jahre, aus Nowa Kachowka. Foto: © Frank Gaudlitz
Dmitri Morozow, 45 Jahre, mit seiner Frau Julia, 27 Jahre, und ihren Kindern Maria,15 Jahre, und Svajtoslav, 6 Jahre, aus Nowa Kachowka
Foto: © Frank Gaudlitz

Wir kommen aus Mariupol. Die Stadt war auf unserer Seite schon überrannt worden. Wir kamen unter Beschuss und alle saßen im Keller. Nur ich war bei meinem Vater in der Wohnung im vierten Stock, weil er im Rollstuhl saß. Damit Sie es verstehen, es ist Winter, es war sehr kalt, eiskalt, es war März, es waren -16°C, keine Fenster, nichts. Das Militär kam und gab uns fünf Minuten Zeit zum Packen.

Es war unmöglich, meinen Vater nach unten zu bringen. Wir packten, was wir konnten. Wir gingen auf die Straße, und sie begannen, uns zu kontrollieren. Sie fragten: „Ist jemand in der Wohnung geblieben?“ Ich sagte: „Ja, mein Vater ist im Rollstuhl geblieben. Sie haben ihn gesehen, so ein schwerer Mann, schwierig… man braucht ein ganzes System, um ihn durch die Tür zu bringen.“ Ein russischer Offizier sagte: „Von Ihrem Haus wird bald nichts mehr übrig sein, Sie müssen gehen.“ Man wies uns den Weg und wir trafen die Entscheidung, dass mein Mann bei meinem Vater blieb.

Natürlich haben wir nichts verstanden. Wohin? Warum? Alle weinten, alle verabschiedeten sich. Das war’s also. Papa und mein Mann sind geblieben.

Draußen standen die Leute aus den Kellern, etwa 30 Personen, es gab kleine Babys. Wir hatten ein Mädchen, das insulinabhängig war. Zwischen den Bombardierungen rannten die Leute in die Wohnungen. Das Militär war vor uns, das Militär war hinter uns. Wir rannten unter Beschuss, es war völlig unklar, wohin es gehen sollte. Mit diesen Decken… nun mit allem, was wir damals mitnehmen konnten, vor allem die Dokumente, wir hatten immer Dokumente.

Am ersten Checkpoint haben sie uns in einen Bus gesetzt. Die Fahrt dauerte etwa 40 Minuten, dann saßen wir wahrscheinlich noch eine Stunde im Bus. Es war kalt draußen, -16°С. Dort gab ein sehr großes Zelt. Wir befanden uns in einem Gebiet, das bereits seit 2014 besetzt war, dem Dorf Bezimenne. Wir saßen dort, es blieb unklar, worauf wir warteten. Ja, sie wärmten uns auf, gaben uns Tee, ließen es so aussehen, als würden sie uns helfen. Aber wir konnten an nichts denken. Alle unsere Gedanken drehten sich um meinen Vater, der dort geblieben war und was mit unserem Haus geschehen würde. Wir saßen noch eine Weile in diesem Zelt. Die Zeit stand still, sie blieb einfach stehen.

Und dann gab es ausgerechnet in dieser Verzweiflung einen sehr positiven Moment. Mein Sohn ging raus an die frische Luft und fünf Minuten später stürmte er ins Zelt und rief: „Mama, Opa und Papa sind da!“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich rannte nach draußen und sah ihn da im Rollstuhl sitzen, zitternd. Ich weinte.

Es ist ein Wunder, dass er an denselben Ort gebracht wurde, wie wir. Dieselben Leute halfen, den Rollstuhl mit meinem Vater hinunter zu bringen und mein Mann schaffte es dann über alle Bordsteine, über alle Unebenheiten… Unter Feuer, brennenden Häusern, zerstörten Häuser, und überall Tote. Es ist ein Wunder. Und sie hatten Glück, dass ein russisches Militärauto sie mitnahm. Es war ein Wunder.

Dann wurden wir zur Schule gebracht. In der Schule in diesem Dorf, in Bezimenne, saßen wir auf Bänken und warteten, bis wir an der Reihe waren. Drei Tage saßen wir dort, und immer wieder kamen Menschen aus zerbombten Häusern, aus ausgebrannten Häusern mit kleinen Kindern, nackt, mit allem, was sie gerade noch mitnehmen konnten.

Sie schikanierten die Männer sehr stark, Gott sei Dank haben wir es alle ohne weitere Exzesse überstanden. Ja, es war beängstigend. Die Männer wurden bis auf die Unterwäsche ausgezogen, ich weiß nicht, was sie an ihrem Körper suchten, aber das war die Prozedur.

Als wir alles überstanden hatten, begannen wir zu überlegen, wohin wir gehen und was wir als nächstes tun sollten. Es gab keinen Weg in die Ukraine. Wir befanden uns bereits auf dem seit 2014 besetztem Gebiet.

Und dann… die Welt besteht aus guten Menschen.

Wir kontaktierten unsere Verwandten. Sie leben im besetzten Gebiet im Oblast Luhansk und ein Mann aus dem Dorf hat uns geholfen, dorthin zu kommen. Wir blieben zwei Wochen bei ihnen, nur um durchzuatmen.

Was wollten wir am liebsten tun? Wir wollten unbedingt baden, denn über einen Monat verbrachten wir im Keller – kein Wasser, kein Licht, kein Gas, kein Essen, es gab praktisch nichts. Sie verstehen, wenn man Zivilisation und Wasser sieht, will man sich als erstes waschen. Wir waren sehr glücklich. Die Menschen brauchen so wenig, um glücklich zu sein, oder?

Tiflis, 29. März 2023

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